Silvia Fischer ist Autorin von dem Buch „Der Vagabundenblog: Vom Leben ohne Geld“, welches im März 2020 als gebundene Ausgabe erschienen ist.
Ich nehme das Buch zum Anlass, um mit Silvia ein Interview zu führen.
Wer sich weitere Informationen einholen möchte, dem empfehle ich Silvias Internetpräsenzen anotherworld.site, vagabundenblog.wordpress.com und violettespirit.wordpress.com.
Das Gespräch führten wir am 19.05.2021 via Webex. Das Gespräch wurde für diesen Blog gekürzt.
Maik: Ich habe in deinem Buch gelesen, wie du gelebt hast, wo du übernachtet hast und wen du kennengelernt hast etc. Mich würde interessieren, wie du zu diesem Vagabundinnenleben gekommen bist. War das eine Entscheidung von heute auf morgen? Wie kam das dazu?
Silvia: Es war mein Traum, ohne Geld zu leben. Und den hatte ich schon fünf Jahre vorher und war in der teuren Einzimmerwohnung in München mit über 600 Euro Miete. Ich hatte aber diesen Traum und war da auch im Tauschring. Und ich habe geguckt, dass ich arbeiten gehe, Mund gegen Hand sozusagen. Habe alles nicht so richtig gefunden. Wie auch immer, es hat nicht funktioniert.
Und dann war es so in meinem Leben, dass ich, ich hatte vorher Arbeitslosengeld und dann habe ich nur noch Rente bekommen und es war dann nur noch die Hälfte, das war dann kaum mehr als die Miete, die ich zu zahlen hatte für die Wohnung. Also ich hätte ja gar nicht wohnen bleiben können. Ja, und in München mit dieser geringen Rente, da hätte ich Geld dazu beantragen müssen und das wollte ich nicht.
Ich bin dann in eine Lebensgemeinschaft gezogen, in der Schweiz, und war da eine Zeitlang und habe dann gemerkt, das sind mir zu viele Leute hier. Das halte ich gar nicht aus. Und ein paar Sachen haben mir einfach nicht gefallen, nicht gepasst. Ich hab gemerkt, ich brauche Zeit für mich. Ich bin gar nicht bereit, zu diesem Zeitpunkt, ganz aufzugehen in der Gemeinschaft.
Und dann hab ich mir eine kleine Wohnung gesucht und eine gefunden im Schwarzwald. Ich hatte damals auch schon angefangen zu reisen. War ein halbes Jahr in Portugal im Winter damals, das war 2004 und ich hab das Reisen wieder für mich entdeckt und hab mir dann diese Wohnung genommen im Schwarzwald. Also ich hatte ja Rente, Erwerbsminderungsrente, also diese geringe Rente und bin dann erst mal nach Brasilien geflogen, drei Tage später, wo ich sechs Jahre gelebt hatte. Ich habe dann also den Winter in Brasilien verbracht und dann ging es mir irgendwie ganz schlecht. Mir ging es sehr schlecht dann in Brasilien und ich habe auch gar nicht mehr gesprochen monatelang. Ich war vollkommen unter Schock. Ich konnte auch nicht zurückfliegen, bin da in einem schwarzen Loch gelandet und habe gemerkt, das ist mir alles gar nicht so gut bekommen.
Okay, dann komme ich also zurück in meine Wohnung im Schwarzwald und beginne zu pendeln. Also in München hatte ich mir überlegt, ohne Geld zu leben, dann hatte ich eben diese Wohnung im Schwarzwald, die nur noch ein Viertel von der Münchener Wohnung kostete. Da ich nie auf dem Land gelebt hatte vorher, sondern ein Großstadt-Kind bin, hatte ja auch mal in São Paulo gelebt, mit damals 16 Millionen Einwohnern, sechs Jahre, dann in München mit knapp vier Millionen und dann plötzlich im Schwarzwald, auf dem Dorf, das konnte ich nicht lange aushalten. Und dann habe ich angefangen zu pendeln zwischen München und Schwarzwald.
Dann bin ich zum ersten Mal auf den Jakobsweg gegangen, 2007, dann kam Würzburg auf die Bühne, wo ich dachte, da geht mein Leben weiter. Und da bin ich dann auch immer hingefahren nach Würzburg. Eigentlich wollte ich ins Kloster gehen dort. Es war so mein Traum. Aber irgendwie hab ich was falsch gemacht. Und dann hab ich meine Wohnung im Schwarzwald, die ich sehr selten genutzt hab, weil ich viel hin und her gependelt und gereist bin, aufgegeben. Die habe ich nur drei Monate genutzt, wenn man alle Tage zusammenzählt, im Jahr. Dann habe ich mir gedacht, naja, dann brauche ich vielleicht doch gar keine Wohnung. Ich habe die Wohnung dann aufgegeben, aber das war mein Fehler, sag ich mal. Also es war mein Fehler.
Dann war ich neun Jahre ohne Wohnung. Die Wohnung hatte ich aufgegeben im Sommer 2008. Mir hatte ein Freund in Würzburg erzählt, dass er auch ohne Geld gelebt hatte. Er war ein Nachfolger von dem Michael Holzach, der das Buch „Deutschland umsonst“ geschrieben hatte. Und dieser Freund von mir, mit dem habe ich mich immer wieder getroffen und wir sind spazieren gegangen. Er hat mir erzählt, in Frankreich, also die Leute, die keine Wohnung haben, die können in Frankreich im Süden überwintern. Das hat mich sehr stark beeinflusst. Also es ist dann einfach in meinem Leben so passiert, dass ich dann da in Frankreich gelandet bin. Ich hatte dann die Wohnung im Schwarzwald aufgegeben. Das war der falsche Zeitpunkt, weil mit dem Kloster, das wurde nix. Ich wollte dann zu einer Freundin, die wollte, dass ich bei ihr wohne, wenn ihre Tochter auszieht. Es hätte noch ein Monat gedauert und dann wäre die Tochter ausgezogen. Ich hatte die Wohnung aber schon aufgegeben und ab dem Moment war ich einfach obdachlos, wohnungslos.
Ich war schön öfters in meinem Leben obdachlos. Ich war schon im Jahre 1998 in München obdachlos und bin dann in ein Obdachlosenheim für Frauen gegangen. Also ich kannte das schon. Ich wusste schon, wie es ist und habe mir gesagt, okay, dieses mal will ich das leben. Ich kenne das schon. Ich weiß, wo ich da hinkomme und wie es ist im Obdachlosenheim und so. Und dann war das so, ich hatte einen Nazi-Verfolgungswahn. Ich fühlte mich von Nazis verfolgt in dem Moment, wo ich obdachlos wurde. Beim ersten Mal obdachlos werden, sind die Leute noch nett zu einem. Aber ich sag mal, wenn es dann zum zweiten Mal passiert, ich sage jetzt mal Wahn, wie ich das so empfinde im Nachhinein. Jetzt sind die Leute nicht mehr so nett zu mir.
Maik: Okay. War vielleicht nicht nur Einbildung und Wahn, sondern könnte ich mir durchaus auch real vorstellen, oder?
Silvia: In Deutschland ist man als wohnungsloser Mensch nicht so willkommen und nicht so gut angesehen. Es gibt aber auch riesige Unterschiede unter den obdachlosen Menschen. Also nur am Rande erzählt, es gibt in Lourdes eine katholische Einrichtung, da kann man drei Tage übernachten. Da hat ein Typ zu mir gesagt, wie, du hast keine Wohnung, sowas habe ich ja noch nie gesehen. So jemand wie dich, der keine Wohnung hat, hab ich noch nie gesehen, weil die Leute normalerweise irgendwie niedergeschlagen sind. Und ich war ja immer in der Freude. Also für mich war es auch eine spirituelle Übung, ehrlich gesagt, ich bin den spirituellen Weg gegangen, für mich war das einfach eine spirituelle Übung das Ganze.
Maik: Das merkt man auch bei deinem Buch, die frohe Stimmung steckt an. Zwischendurch merkt man schon, dass es dir auch ein bisschen auf die Nerven geht, aber meistens geht es dann auch wieder mit guter Stimmung weiter.
Silvia: Ja, genau. Also manchmal war ich natürlich auch irgendwie fertig. Es war ja nicht leicht. Mein Leben war ja nicht leicht. Aber jetzt nochmal zurück. Ich hatte also meine Wohnung gekündigt, bin dann zu meiner Freundin nach Würzburg gegangen, die war halt nicht da und ich bin da praktisch hin als Haushüterin. Ich sah dann überall Zeichen, also Hakenkreuze, ein Buch war mit lauter Mäusen abgebildet in grau-weißen Anzügen. Und dann die Katze, Hitler war sozusagen die Katze. Und ich fühlte mich eben auch als eine Maus, die von der Katze verfolgt wird. Ich habe dann mal wo übernachtet, da lief dann die ganze Zeit Cat nachts über den Bildschirm als Bildschirmschoner. Ich habe dann in diesem Kloster, wo ich eigentlich gerne eintreten wollte, irgendwie mitgeholfen. Dann sagte die Schwester: „Ach sie sind ja noch da. Ich dachte, die Katze hätte sie gefressen“, oder so.
Und das war für mich das Zeichen. Ich wusste schon lange vorher, ich werde eines Tages flüchten müssen und das Land verlassen. Und dann wusste ich, jetzt ist der Tag gekommen und ich habe dann eine kleine Tasche genommen. Also gar nicht groß. Ich habe meine Sachen da rein gelegt. Ich wusste, ich habe jetzt einen Tag Zeit, hier abzuhauen, das Land zu verlassen, sonst passiert mir was. Und dann bin ich auf die Raststätte hochgelaufen und habe meinen Daumen rausgehalten. Und der erste, der anhielt, sagt: „Ich fahre in die Schweiz.“ Und dann bin ich in die Schweiz gefahren und war damit gerettet. Sag ich jetzt mal.
Maik: Und dann?
Silvia: Ich war dann in der Schweiz zuerst einmal, und dann kam ich nach Frankreich. Und ein halbes Jahr später habe ich dann angefangen, mein Leben wirklich zu beschreiben in dem Buch.
Maik: Und auf dem Blog. Du hattest den Vagabundenblog. Den hatte ich leider nicht verfolgt, da ich erst durch das Buch auf den Blog aufmerksam geworden bin.
Silvia: Den Blog gibt es immer noch. Naja, die Obdachlosigkeit hat bei mir jedenfalls neun Jahre gedauert. Ich kenne Menschen, bei denen hat es achtzehn Jahre gedauert.
Maik: Wolltest du denn raus aus der Obdachlosigkeit schnellstmöglich?
Silvia: Nein, ich wollte nicht raus. Das stimmt definitiv. Ich bin darin aufgegangen.
Maik: Und wie kam das dann nach den neun Jahren Obdachlosigkeit? Hast du nach den neun Jahren dann gesagt, so, nun reicht es? Oder war es ein Zufall?
Silvia: Göttliche Fügung. Also wenn Leute sagen Zufall, ist es für mich entweder eine glückliche oder eine göttliche Fügung. Das war dann so, also nach einem Jahr, indem ich ohne Geld gelebt habe, ganz ohne Geld, mehr oder weniger, also ich habe 88 Euro ausgegeben in den Jahr, also 8 Euro im Monat. Danach war ich fix und fertig. Ich war ausgelaugt. Ich war ausgezehrt. Ich bin ja mit meinem Rucksack rum und der wiegt ja was. Ich meine, ich war dankbar für den Rucksack, weil ich kannte viele Menschen, die hatten keinen Rucksack.
Die anderen Obdachlosen, ich war ja in der Provence, die anderen Obdachlosen, die hatten gar nix. Die hatten nicht mal eine Tasche, die hatten ihre Sachen am Leib. Und ab und zu mal sind sie da hin in die Kleiderkammer und zum Duschen. Die haben dann eine neue Ausstattung bekommen, neue Kleidung, und die alte haben sie weggeschmissen. Das ist ein anderes Kaliber. Also Menschen ohne Zuhause, sag ich ja lieber. Obdachlose, der Begriff gefällt mir nicht, ich sage lieber Menschen ohne Zuhause.
Maik: Ja, das trifft es.
Silvia: Genau, da war ich nicht auf dieser Stufe und darüber war ich auch dankbar. Ich hatte meinen Schlafplatz, hatte eine Isomatte. Also auch nicht immer. Manchmal bin ich auch so wie nach dem Evangelium, geht mal ohne alles los, losgezogen. Habe dann geguckt, was passiert. Aber im Normalfall hatte ich ein bisschen Kleidung zum Wechseln, so dass ich wenigstens waschen konnte. Also diese anderen Leute, die waschen ja ihre Kleidung nicht mehr, die schmeißen sie eben einfach weg. Also ich habe meine Kleidung gewaschen.
Und nochmal zu deiner Frage, warum oder wie kam es, dass sich mein Leben geändert hat? Also es waren verschiedene Aspekte. Es war so, erstens mal, wurde ich ein bisschen müde. Ich war dann auch schon irgendwie fertig und ausgelaugt vom Leben. Hat mich schon auch angestrengt. Und es gab verschiedene Aspekte, die immer schwerer gewogen haben. Einmal war es die Frage, ist es meine Lebensaufgabe, meine Mission? Bin ich deswegen auf die Welt gekommen, um so zu leben und das weiterzugeben? Oder habe ich vielleicht eine ganz andere Lebensaufgabe, eine ganz andere Mission in meinem Leben?
Maik: Und was ist rausgekommen bei deinen Überlegungen?
Silvia: Ich habe Jahrzehnte Visionen gehabt, wie die Welt, die Erde in Zukunft aussieht. Irgendwann mal, ich weiß nicht wann. Alles sehr positiv. Wunderschön. Alle Probleme, die wir haben, gelöst. In Deutschland ist es so, was man erst einmal beweisen muss ist, dass man sich um sich selber kümmern kann. Und wenn man das nicht beweisen kann, dann wird man auch gar nicht gehört. Ein wohnungsloser Mensch in Deutschland findet kein Gehör. Ja, also das war zumindest meine Überlegung. Es mag in der Praxis anders sein. Es war meine Überlegung. Ich werde nicht gehört, wenn ich nicht beweise, dass ich mich um mich selber kümmern kann.
Maik: Da ist was dran.
Silvia: Und ich hatte auf dem ganzen Planeten Erde kein Basislager. Und ich hatte keinen einzigen Platz auf der ganzen Erde, wo ich meine Sachen lassen konnte, weggehen, und wenn ich wiederkomme, sind sie noch da. Ja, weil meine lieben Freunde, die wollten auch nicht meine Sachen alle aufheben, bis ich wiederkomme. Da ich das gar nicht hatte und das jetzt schon 9 Jahre, habe ich gedacht, es wird Zeit, was zu ändern. Es geht nicht mehr so für mich. Und dann ist das eben alles passiert. Es standen schon oft die Zeichen auf Veränderung. Schon Jahre vorher war ich mal bei jemanden zu Gast. Auch in Deutschland hab ich ja so gelebt, dass ich bei Leuten mitgelebt habe. Und wenn ich aus dem Fenster guckte, habe ich auf eine große Plakatwerbung geschaut. Da stand Change. Okay, aber was kann ich ändern? Genau. Und habe mir lange die Frage gestellt. Was kann, was könnte ich ändern in meinem Leben?
Und dann ist es so passiert, dass ich eben auch wieder in Würzburg war. Bei dieser Freundin, wo ich Jahre zuvor eigentlich habe einziehen wollen. Und dann ging es Richtung Weihnachten und sie sagte, am 19. Dezember kommt meine Tochter und da musste ich raus. Und dann nicht nur, dass ich raus muss. Also das wäre ja ok gewesen. Es war ja immer so. Dann sagte sie noch: „Ja und deine Sachen, die kannst du bitte dann auch noch irgendwie raus tun.“ Und dann bin ich innerlich zusammengebrochen und habe gemerkt, ich kann nicht mehr so leben, wie ein Hund, dass die Leute sagen, so, jetzt musst du gehen und deine Sachen nehmen und das ging für mich nicht mehr. Und dann habe ich die Entscheidung getroffen.
Ich war lange schon dabei zu überlegen, wo nehme ich mir eine Wohnung, in welchem Ort nehme ich mir eine Wohnung? Und schon ein halbes Jahr vorher war ich dann auch noch am Jakobsweg und jeden Tag, wo ich war, habe ich gedacht, so, jetzt nehme ich mir eine Wohnung, jetzt halte ich an, ja, ich bin ja immer gereist. Ich war ja immer in Bewegung und ich musste irgendwo anhalten. Nun, darum ging es, anhalten. Und dann hab ich an diesem Weihnachten, da hat mich dann wieder jemand aufgenommen bei sich und hat sich irgendwie als Freundschaft entwickelt zu einem Mann, also eine Beziehung. Und dann hab ich gesagt, okay, jetzt nehme ich mir eine Wohnung. Und zwei Tage später hatte ich eine Wohnung.
Maik: Eine Wohnung gemietet, ja?
Silvia: Genau.
Maik: Aber da warst du nicht so lange. Oder doch?
Silvia: Also um ins Detail zu gehen, es gab ein Wohnheim für Frauen in Würzburg. Da hatte ich angefragt, damals in 2008. Da wurde ich abgelehnt von einer Sozialarbeiterin. Und diese Sozialarbeiterin war dafür verantwortlich, dass ich neun Jahre keine Wohnung hatte.
Maik: Warum?
Silvia: Ich wurde abgelehnt mit der Begründung, ich würde nicht dazu passen. Irgendwie zu den anderen; ich würde da nicht reinpassen. Sozialarbeiter können das entscheiden. Dafür sitzen sie im Warmen auf einem Stuhl das ganze Jahr, während die anderen um sie rum auf der Straße rummachen, sag ich jetzt mal. Und dann hätte ich neun Jahre später zur selben Sozialarbeiterin hingehen müssen, die war für mich zuständig.
Maik: Oh nein.
Silvia: Und ich war so traumatisiert von dieser Frau, dass ich ja jahrelang zu keinem Sozialarbeiter hingegangen bin. Außer einmal in der Provence. Nachdem ich auch ohne Geld gemerkt habe, ich kann nicht mehr so leben. Ich kann nicht mehr. Ich bin ausgezehrt. Da bin ich einmal in der Provence zum Sozialarbeiter gekommen und habe gefragt, was ich denn machen könnte. Sprich, könne ich nicht Geld bekommen. Wohngeld einfach nur für eine Wohnung. Ich will kein Geld fürs Leben, aber für eine Wohnung. Und dann hat er zu mir gesagt, lassen Sie sich doch kostenlos beherbergen. Ich fand es so eine tolle Idee, auf die war ich gar nicht gekommen. Und ab dem Zeitpunkt war ich auch jahrelang eingeladen bei Menschen.
Maik: Okay, also du hast einfach Leute gefragt? Oder durch eine glückliche Fügung, wie du sagst.
Silvia: Genau.
Maik: Aber Tagesgeld oder sowas in der Art, also Geld vom Amt, hast du nicht genommen?
Silvia: Ich habe ja kein Geld genommen. Ich habe ja freiwillig so gelebt. Ich habe dann freiwillig ohne Geld gelebt.
Maik: Ja, das hattest du ja gesagt, das war eine bewusste Entscheidung, dass du freegan praktisch leben möchtest.
Silvia: Genau, ich wollte auch mit dem System nix zu tun haben.
Maik: Das haben mir auch viele erzählt. Also so ein Widerstand, irgendwie so ein innerer Widerstand, oder auch äußerer. Also so ein Ausstieg aus dem System. Das steckt bei dir auch dahinter, höre ich da raus.
Silvia: Ganz richtig, ja, ich hab mir auch ein anderes System entwickelt. Also bei mir steht eine spirituelle Praxis drum herum. Also dass ich zwei Stunden am Tag irgendwas tue für mein leiblich-seelisch-geistliches Gleichgewicht. Ich selber praktiziere Bewegung in der Natur. Also spazieren gehen oder Fahrradfahren. Also sich über die Natur zu verbinden, rück zu verbinden mit unserem Ursprung, da wo wir herkommen. Und da drumrum hab ich gebaut, so dass man nicht gar nichts tut, sondern auch, dass man in Gemeinschaft oder einer Gemeinde leben kann, dass man anderthalb bis zwei Stunden statt vier oder acht was tut, also irgendwie beiträgt, was man kann und dass man sich das freiwillig aussuchen kann, was man gerne machen möchte.
Ja, das und dass man daneben Zeit hat, eben sich genug zu bewegen, weil das ist eine Hauptkrankheitsursache. Dass man Zeit hat, sich gesund zu ernähren. Das braucht ja auch viel mehr Zeit, als wenn ich jetzt eine Fast-Food-Pizza in mich reinschiebe. Und daneben noch Zeit hab, anderen Leuten zu helfen, die hilfsbedürftig sind. Das ist mein System.
Maik: Finde ich richtig gut. Das klingt richtig gut. Finde es schön, dass du das machst.
Silvia: Ja, ne, finde ich auch!
Maik: Einige haben mir auch erzählt, sie wollen eigentlich auch in Ruhe gelassen werden und sich zurückziehen. Sie wollten einfach mal sich zurückziehen und in Ruhe gelassen werden. Das höre ich bei dir auch raus. Du wolltest ins Kloster gehen. Das Bedürfnis scheinst du auch zu haben, oder?
Silvia: Also, ah ja, das stimmt schon. Auch deshalb habe ich mir jetzt auch eine Wohnung genommen, wo ich bin. Ich bin jetzt in Nordhessen. Da war ich in einer WG für 10 Monate und habe auch gemerkt, nee, also ich will jetzt auch, ich will jetzt meine Ruhe haben. Ja, genau.
Maik: Wenn ich mir das so vorstelle, auf der Straße leben, ist, so stelle ich mir das vor, ist doch das Gegenteil von Ruhe haben. Du hast es ja schlau gemacht. Aber ich sag mal so, wenn man jetzt noch jeden Tag zu den Ämtern muss und zur Essensausgabe und Zeitungen verkaufen und Schlafplatz suchen im Übernachtungsheim, das ist ja das Gegenteil von in Ruhe gelassen werden, sondern das ist doch Stress pur. Also, wenn ich mir so vorstelle, oder?
Silvia: Ist schon so. Also ich hab ja immer gesagt, Duschen ist ein Tag füllendes Programm, ja. Also wenn ich duschen wollte, in Frankreich war das so, dann musste ich 25 km weit trampen. Ich musste früh genug los, weil das war immer, es gab ja für alles feste Zeiten. Da konnte man halt so bis maximal 11 Uhr 30 duschen, weil um 12 haben sie zugemacht. Da musste ich mich schon drauf einstellen vorher, dass ich früh genug irgendwie auch da bin. Und so weiter und so fort und dann wieder 25 km zurück trampe. Also da war ich schon den ganzen Tag beschäftigt. Also, ich meine jetzt energetisch auch. Darauf einstellen und so weiter.
Genauso wenn man Wäschewaschen wollte. Mal eine Maschine oder so. Nicht nur kurz was aus der Hand waschen. Das war auch, das war mit Aufwand verbunden und da musste man sich anmelden. Es gibt für alles festgeschriebene Zeiten, auch fürs Essen. Dann und dann ist Frühstück, dann Mittagessen und so weiter. Die Freiheitshöhe ist relativ. Und in Ruhe gelassen werden. Naja, man wird schon in Ruhe gelassen. Ja, mehr oder weniger.
Also ich muss sagen, wenn ich dann in diese Einrichtung hin bin, das ist dann auch sehr anstrengend, weil die Leute sind ja zum Teil auch ziemlich heftig drauf. Und wenn man da auf Toilette ist, da kann schon mal einer kommen und mit seinem Fuß gegen die Toilettentür bollern. Also von wegen in Ruhe gelassen werden oder auch wenn man duscht. Oder ich gehe mal wohin zum Frühstück und dann kriegt einer die Krise und dann werden die Teller rum geschmissen und die Tische umgeworfen und am Ende ist dann 3 Wochen das Etablissement zu, weil man es wieder herrichten möchte wegen den Krawallen usw. Also so ganz in Ruhe gelassen wird mir dabei nicht, das stimmt wohl.
Maik: Und waren auch Männer in diesen Einrichtungen oder waren das reine Fraueneinrichtungen, wo du warst?
Silvia: Nee, da waren schon Männer.
Maik: Und wird man da, naja, als Frau ist es doch bestimmt nochmal krasser, oder? Stelle ich mir jedenfalls so vor. Oder hast du das Gefühl gehabt, Männer und Frauen haben das Gleiche erlebt auf der Straße? Also ich stelle mir vor, dass für Frauen das alles nochmal ein bisschen härter alles ist. Oder täusche ich mich da? Kann ja auch sein.
Silvia: Also für mich war es so, ich kam da zum ersten Mal auch in Frieden damit, eine Frau zu sein, weil in der Tat, weil ich sehr oft aufgenommen wurde. Dadurch, dass man eine Frau einfach nicht auf der Straße sein lässt. Also zumindest in Frankreich ist es so, in Deutschland ist alles anders. Also in Frankreich, ich hab das vorher nicht so richtig publik gemacht oder so. Oder nur wenig. Also ja, sodass ich ein Jahr nicht unbedingt die ganze Zeit aufgenommen war, sondern auch im Zelt übernachtet habe oder sonst wo. Weil ich das auch nicht kommuniziert hab. Man schämt sich ja auch dafür.
Ich wurde dann bei Leuten aufgenommen. Die Leute hatten auch alle gleich Vertrauen zu mir. Ich habe also auch Vertrauen ausgestrahlt und ich habe von einem gehört, den zitiere ich ja auch in meinem Buch, der 18 Jahre ohne Wohnung lebte und der wäre aber eben nie eingeladen worden. Also Männer werden in dieser Situation alleingelassen, oft, die haben es viel schwerer. Also bis auf mein Exfreund, der hatte auch 18 Jahre ohne Wohnung gelebt in Paris. Er sagt immer, in den 80er und 90er Jahren, da war das alles ganz anders. Also er war dann auch eingeladen bei Leuten. Aber heute ist es für ein Mann viel schwieriger, dass die Leute das Vertrauen haben.
Maik: Wie kam es eigentlich, dass du diesen Vagabundenblog eingerichtet hast? Wolltest du den Leuten mal erzählen, wie es ist? Meine Frage ist also, warum du das sozusagen öffentlich gemacht hast mit dem Blog.
Silvia: Ich habe dann so gelebt und ich war ja selber sehr fasziniert von meinem Leben. Ja, und zwar, das war ja eine andere Lebensart, die sich täglich bei mir entwickelt hat. Also normal haben wir das Planen. Wir planen unser Leben und setzen uns Ziele. Und die erreichen wir jetzt nach Möglichkeit oder auch nicht. Und bei mir war es so, ich hab mich in die Existenz fallen lassen.
Also eine ganz andere Art und Weise zu leben. Ja und ich habe einfach geguckt, was dann passiert, wenn ich das tue. Man weiß ja gar nicht, was die nächsten 5 Minuten passiert und wo man übernachten wird und so. Ich fand es so faszinierend, was da alles passiert ist, das hätte ich mir selber gar nicht ausdenken können.
Maik: Ja, und wolltest du es denn anderen Leuten, so verstehe ich das, so ein bisschen Mut machen, dass die auch mal über ihr Leben nachdenken?
Silvia: Das war dann so, ich wollte einfach das teilen mit den Leuten, was ich erlebe.
Maik: Und es hat ja anscheinend auch geklappt. Da waren doch einige, die was kommentiert haben und so weiter auf deiner Seite.
Silvia: Also der Ursprungsblog war auf MySpace, aber das ist ganz furchtbar geworden, aber damals war es schön. Ich hatte dann nicht viele Leser. Also es war so, es hatte mir jemand erzählt, in der Bibliothek, da und da, kann man, auch wenn man nicht angemeldet ist, ins Internet gehen. Ja und dann bin ich da hin und hab das gemacht. Ich habe alles aufgeschrieben, über mein Leben, also das mache ich, seit ich 12 Jahre alt bin, das Tagebuchschreiben. Ich hab mein Leben aufgeschrieben und bin dann dahin in die Bibliothek. So zwei, dreimal die Woche, je drei Stunden, also 12 Stunden die Woche stand ich dann da am Computer und hab alles abgetippt, was ich aufgeschrieben hatte und was ich für Wert fand, mitzuteilen.
Es war eigentlich für mich auch eine Technik, mein Leben zu verarbeiten. Also es war eigentlich eine Schreibselbsttherapie. Ich hatte keinen Therapeuten mehr. Und einfach damit zu leben, mit dem was ist. Mein Leben, sag ich mal, zu begreifen und die Dinge fassbar zu machen, die für mich unfassbar waren. Manche Dinge, die passiert sind, waren für mich unfassbar. Und um die zu fassen und zu kommunizieren, meine Art zu kommunizieren, war das, einfach in Austausch zu treten. Man muss sich vorstellen, ich war ja in Frankreich. Ich habe die Sprache auch nicht so supergut gesprochen. Ich hatte zwar mal Französisch-Leistungskurs, aber viele Wörter, die habe ich nie gelernt. Vor allen Dingen die, die man auf der Straße spricht. Und das war einfach für mich eine Art zu kommunizieren, mich auszutauschen, den Deutschen was weiterzugeben, was zu teilen.
Maik: Also ich hab ja nie so gelebt, aber ich versuche es einfach nur zu verstehen, weil ich sehe jetzt auch z. B. bei Instagram, darüber haben wir uns ja auch kennengelernt, da sind halt schon so einige, die Bilder zeigen, wie sie da irgendwo am besten wie so ein Einsiedler leben oder so, ein zurückgezogenes Leben.
Und da frage ich mich halt immer, wenn die so zurückgezogen sein möchten, warum zeigen sie das dann? Weil dann öffnen sie sich ja sozusagen wieder und sind dann öffentlich. Also hat es für mich eben so ein bisschen so einen kleinen Widerspruch. Aber vielleicht muss das auch so sein, weil man sonst auch vereinsamt, wenn man das gar nicht macht.
Silvia: Ich gebe dir eine Antwort auf diese gute und wichtige Frage. Und zwar gibt es diesen Film und das Buch "Into the Wild". Ich war ziemlich ähnlich, haben manche Leute zu mir gesagt. Du bist ja wie "Into the wild". Und es ist auch für mich dasselbe gewesen, dieses Abhauen aus dieser, ich sage jetzt mal aus dieser verlogenen Mittelstandsschichtwelt. Ja, die so tun, als wäre alles in Ordnung. Und dabei ist gar nichts in Ordnung. Also diese Flucht vor dieser Schein- oder Scheißwelt, sage ich jetzt mal für mich. Wo vieles hinten und vorne doch einfach gar nicht stimmt. Und dann "into the Wild", da wegzugehen.
Das heißt, auch vor diesem Schmerz, diesem inneren Schmerz, weg zu gehen. Irgendwo hinzugehen und zu gucken, wo kommt man hin. Und die Botschaft von "Into the Wild", der ist ja gestorben am Ende. Er hat irgendwie eine falsche Pflanze gegessen. Irgendwie eine giftige Kartoffel, oder was. Und er hat als Nachricht hinterlassen. „Glück ist nur wirklich Glück, wenn man es teilt“ oder so, von der Botschaft her. Es ist alles umsonst, mein ganzes Streben nach Glück, wenn ich es nicht teilen kann. Das einzige, was ich wirklich machen konnte, war mein Tagebuch schreiben und das übertragen und den Blog führen.
Maik: Magst du was zu deinem Blogeintrag "Auf der Suche nach dem großen Glück" sagen?
Silvia: Also man sucht natürlich immer viel. Ich hab immer die Wahrheit gesucht. Dann hab ich Gott gesucht. Man sucht Erfüllung und Glück. Es gibt so viele Dinge, die man sucht, den heiligen Gral nicht zu vergessen. Das allerwichtigste war die Suche nach dem heiligen Gral. Ich bin ausgezogen und gut, dass wir das noch thematisieren, wie die Ritter der Tafelrunde, ja, die Ritter der Tafelrunde. Die bekommen mit auf den Weg, wenn sie ausziehen, nicht so viele Fragen zu stellen, denn das schickt sich nicht für einen Ritter.
Mich haben die Leute gefragt, na, wo schläfst du denn? Und dann hab ich gesagt, weiß ich nicht. Dann haben sie gesagt, kannst bei mir schlafen. So hab ich ja Jahre lang gelebt, weißt du. Das fand ich so faszinierend. Ich brauchte die Leute nicht fragen, die Leute haben mich gefragt.
Maik: Und du würdest jetzt im Nachhinein sagen, das war eine gute Zeit? Oder was würdest du im Nachhinein sagen, wenn du es rückwirkend bewerten müsstest?
Silvia: Also ich sage, ich wollte keinen einzigen Tag davon missen. Ja, es war eine schwere Zeit. Ich sage auch keinem, macht es mir nach. Ich sag nur, wenn's passiert, man kann trotzdem das Beste draus machen. Ich habe unglaublich viel gelernt fürs Leben. Wenn ich ganz ehrlich hingucke, bin ich so dankbar.
Maik: Also ich stelle es mir, dadurch, dass du ins Ausland gegangen bist, nochmal schwieriger vor. War es diese glückliche Fügung oder wolltest du absichtlich raus aus Deutschland. Hatte das auch noch einen Grund?
Silvia: Ich hab dir ja erzählt, dass ich mich praktisch von Nazis verfolgt fühlte. Genau, und die gibt's im Ausland weniger. Und in Frankreich ist es so, ich meine, die Deutschen sind ja im Dritten Reich damals auch nach Frankreich gegangen. Ja, oder haben Frankreich besetzt. Es ist so, dass die Franzosen, also für mich was dahinter steht, ist ein Geist. Ich nenne den gerne Nazi-Geist bzw. Geist des wertlosen Lebens. Und der Geist, den sehen wir, der ist jetzt gerade brandaktuell, ganz auf der globalen Ebene am Werk. Alle Andersdenkenden sollen ausgeschaltet werden. Es muss alles kontrolliert werden. Und die Leute haben ganz, ganz große Angst vor diesem Geist.
Und ich hatte das auch. Und ich war eigentlich auf der Flucht auch vor diesem Geist. Und es ist so, dass in Frankreich die Menschen anders damit umgegangen sind. Damals im Dritten Reich mit diesem Geist. Und zwar die Deutschen, die haben getötet. Die haben das umgesetzt. Die haben den Geist, also, ihr müsst diese Leute töten, weil die unwertes Leben sind. Dann haben die Deutschen das gemacht.
Die Franzosen, die haben nicht selbst getötet. Die Franzosen haben ausgeliefert. Die Franzosen haben verraten. Die sind hingegangen und haben den Deutschen die Leute genannt. Ja, das haben die Franzosen gemacht. So sind die damit umgegangen. Die haben auch nicht eine ganz weiße Weste. Aber sie sind ganz anders, die Franzosen lassen leben. Franzosen sind laissez faire. Leben und leben lassen. Die bringen die Leute nicht um, die versagt haben, die Loser, die Obdachlosen, das machen die nicht, die lassen die leben. Und das war für mich dann schon mal eine ganz große Heilung. Das haben wir in uns auch, diesen Geist, ne?
Maik: Ich denke, ich verstehe, was du meinst, also dass alles gleichgeschaltet sein muss. Und wenn jemand aus der Norm rausfällt, dann muss alles dafür getan werden, dass dieser Mensch, der in dieser Norm nicht mehr drin ist, auch wieder normalisiert wird.
Silvia: Ja, natürlich, weil man das dann leichter kontrollieren kann.
Maik: Liebe Silvia, vielen Dank für das Gespräch.
(Foto: Silvia Fischer)
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