• Preisverleihung 2018

Gespräch mit Richard Brox - Literaturpreisträger und Autor vom internationalen Bestsellerbuch 'Kein Dach über dem Leben'

Im Mai unterhielt ich mich mit dem Literaturpreisträger und Autor vom internationalen Bestsellerbuch 'Kein Dach über dem Leben' u. a. über ein Leben ohne festen Wohnsitz, Freiheitsgefühle und Cliquenbildungen auf der Straße. Richard Brox ist Gründungsmitglied der Arche für Obdachlose & Fördermitglied der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen. Er führt zudem den Blog 'Ohne Wohnung was nun' und gibt entsprechende Hinweise zu verschiedenen Hilfeeinrichtungen in Deutschland.

Maik: Also mein Thema heißt „Vom obdachlosen Berber zur digitalen Bohème. Erfahrungen, Bewertungen und Erwartungen, nomadischer Lebensweisen“. Und das betrifft jetzt nicht nur, in Anführungsstrichen, Berber oder Obdachlose allgemein, sondern Leute, die sich irgendwie entschieden haben, unterwegs zu sein. Auch heutzutage gibt's ja oft sogenannte digitale Nomaden, die dann auch herumreisen, aber auch letztendlich keinen festen Wohnsitz haben. Und dann online arbeiten, aber eben auch bei Leuten auf dem Sofa schlafen. Ist ja auch so ein bisschen fast modern geworden, sag ich mal!

Richard: Abstrakt betrachtet Ja!

Maik: Da du aber schon früher, vor Jahren, diesen Weg gewählt hast, würde mich auch bei dir interessieren, wie das früher so war, als man sich die Tagessätze geholt hat. Das ist eine Frage, die konnte mir keiner bisher so richtig erklären. Anscheinend ist es immer unterschiedlich gewesen, auch jetzt wieder anders, und je nachdem in welcher Stadt man das macht. Hast du da Erfahrungen?

Richard: Zwei konkrete Erfahrungen. Vor Einführung von Hartz IV, also der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, war es so gewesen, dass man die Tagessätze überall, an fast jedem Ort problemlos bekam. Ob das damals über die Sozialämter oder über die Arbeitsämter war, ist dahin gestellt. Es gab auch damals viele Beratungsstellen für Obdachlose, wo man hingehen konnte und in der Zeit von 8 bis 11 Uhr nach Vorlage vom gültigen Personalausweis, auf dem stand ohne festen Wohnsitz oder nur die Stadt ohne Anschrift. Dann bekam man dort relativ einfach den Tagessatz. Nach Einführung von Hartz IV wurde das Hilfesystem komplett anders. Das heißt, im Rahmen dessen wurden dann Arbeitsgemeinschaften gegründet. Bei den Ämtern, hieß es dann ARGE.

Heute sind es zum Beispiel die Jobcenter, in denen dann das Sozialamt integriert ist. Heute bekommst du deinen Tagessatz entweder übers Jobcenter in Gegenleistung, das heißt also, man bekommt dort den Tagessatz nur, wenn man auch Arbeitsleistungen vollbringt und dieser dann rückwirkend ausgezahlt wird. Oder man muss beim Jobcenter einen Antrag stellen auf Auszahlung vom Tagessatz. Der wird dann entsprechend bearbeitet. Es dauert ein paar Tage zur Auszahlung und viele sind dann wieder weg, weil, was willst du auf der Straße eine Woche warten auf einen Tagessatz. Du hast jetzt Hunger und Durst. In einer Woche bist du längst verhungert oder verdurstet.

Etwas einfacher ist es, wenn man zu den Rathäusern hingehen kann. Dort ist das Sozialamt auch integriert. Landratsamt, nennt es sich auch oft. Und da bekommt man dann schon eher den Tagessatz ausbezahlt. Man muss aber hinzufügen, dass durch die Zusammenlegung der Ämter die Wege auch größer geworden sind, da nicht mehr überall, an jedem Ort, eine Auszahlstelle ist. Man hat mit Hartz IV alles zusammengelegt, die Leistungen gekürzt oder gleich ganz gestrichen. Dann ist in einem großen Kreis, sagen wir mal circa 50 km Entfernung, nur eine einzige Stelle noch zuständig dafür. Oft ist es auch so, dass sehr viele ambulante Hilfen, also Anlauf- und Beratungsstellen für Wohnungslose, die Gelder nicht mehr auszahlen dürfen, weil es nur noch über das Amt geht. Somit sind die Wege größer geworden für die Betroffenden und die Hürden hierfür auch. 

Es gibt nur noch wenige Stellen in Deutschland, wo man als Person ohne festen Wohnsitz das Geld für einen ganzen Monat bekommt. Das geht dann so, man geht zur Beratungsstelle vor Ort hin, lässt sich dort eine postalische Erreichbarkeitsadresse einrichten und bei Bedarf auch ein Verwahrgeldkonto. In Berlin wäre dass die Anlauf- und Beratungsstelle in der Levetzowstrasse. Dort kann man die postalische Erreichbarkeitsadresse einrichten. Das bedeuten aber, dass man jede Woche persönlich dort erscheinen muss, um zu erfahren, ob man Post bekommen hat oder nicht. Das tun viele Beratungsstellen, nicht nur in Berlin.

Das heißt im konkreten, das alle laufenden Leistungen zukünftig und bis auf Weiteres zwischen dem Amt und dem Träger der Anlauf- und Beratungsstelle gehen. Dann entscheidet der Sozialdienst in der Beratungsstelle, in Absprache mit dir, ob er das Geld wöchentlich, 14 tägig oder monatlich ausbezahlt. Also diese gute Form an Möglichkeiten gibt es auch, wenn auch immer weniger.

Aber im Grundsatz muss man sagen, wer obdachlos ist, also keine feste Meldeadresse hat, hat juristisch keinen verbindlichen Anspruch auf Krankenversicherung oder Hartz IV Leistungen, wie zum Beispiel Grundsicherung nach SGB XII, was in diesem Fall vorrangig wäre. Man kann daher von Glück reden, wenn man eine von diesen guten Beratungsstelle findet.

Wie berechnet sich aber der Tagessatz? Ganz einfach! Die gegenwärtigen Hartz IV-Leistungen liegen bei 442 Euro monatlich. Und diese 442 Euro werden dann geteilt durch die Anzahl der Tage eines laufenden Monats. Daraus berechnet sich dann der Tagessatz. Man muss aber hinzufügen, bei diesem Tagessatz ist vieler Orts noch keine Krankenversicherung beinhaltet. Das heißt, viele Obdachlose sind daher nicht krankenversichert.

Das hat zur Folge, dass bei vielen die Mitgliedsbeiträge sich anhäufen. Wenn dann ein Betroffener, wieder in einen festen Bezug kommt, zum Beispiel über ein gutes Wohnheim mit Taschengeld, betreute Wohnprojekte oder in eine Übergangswohnung, dann bekommt er ja wieder die volle Stütze abzüglich der Nebenkosten, die vom Amt einbehalten werden. Dann meldet sich natürlich die entsprechende Krankenkasse und fordert von dir die ausstehenden Mitgliedsbeiträge zurück. Daher haben viele Obdachlose ungewollt einen hohen Schuldenberg.

Maik: Und kann man diesen Tagessatz auch in bar bekommen? Oder ist es eher so gemacht, dass man ein Konto braucht? 

Richard: Ein Beispiel. Du gehst auf ein Jobcenter und willst deinen Tagessatz. Dann gibst du dort bei der entsprechenden Abteilung, die für Obdachlose zuständig ist, deinen gültigen Personalausweis ab, sofern du einen hast. Wenn nicht vorhanden oder abgelaufen, musst du hoffen und bangen. Auf dem Personalausweis steht entweder nur der Stadtname oder die Stadt mit dem Zusatz ohne festen Wohnsitz. Dann wissen die sofort Bescheid, dass du tatsächlich obdachlos und Leistungsberechtigt bist.

Dann gibst du deinen Ausweis ab und wartest noch circa eine Stunde, bis alles bearbeitet ist. In dieser Zeit tut die Sachbearbeiterin oder der Sachbearbeiter auf dem Amt, auf der Behörde, dann bei der Polizei anfragen, ob du dort was ausstehend hast, oder sogar gesucht wirst. Zum Beispiel, wegen einer Aufenthaltsermittlung, was noch kein Haftbefehl ist, aber zur genauen Überprüfung deiner Person reicht. Oder aber wegen einem Haftbefehl. Und deswegen lässt man dich draußen warten, weil man dich erst durchleuchten will. Bist du sauber? Gibt es den Tagessatz. Wenn nicht sauber, dann kommt die Polizei.

Maik: Und wenn man jetzt nicht immer in der gleichen Gegend ist, sondern weiterzieht und am nächsten Tag oder drei Tage später dann in einer anderen Gegend sich aufhält? 

Richard: Also wenn du als Berber oder als Vagabund auf Reisen bist, dann hast du überall den Anspruch auf den Tagessatz. Aber wie gesagt, es gibt nicht mehr überall Auszahlstellen. Und dann ist das Problem mit den 50 km Radius. Theoretisch hast du, wenn du von Berlin wieder weggehst und Beispielsweise in die Nachbarstadt nach Potsdam rübergehst oder weiter weg, nach Magdeburg oder Cottbus, dort auch am nächsten Tag den Anspruch auf einen Tagessatz.

Maik: Ich glaube, das weiß gar nicht jeder. Also ich habe schon oft so verzweifelte Gespräche gehabt, wie das funktioniert. Ich hab dann versucht zu recherchieren im Internet und es ist jetzt nicht so klar zu finden. Es ist schon ein bisschen versteckt.

Richard: Ja, das Problem ist, dass seit Umstellung auf Hartz IV, das Verhalten gegenüber Obdachlosen, ich will es jetzt mal ganz vorsichtig freundlich formulieren, eher zurückhaltend geworden ist. Und mit dieser neuen Art von Verhalten haben natürlich auch Obdachlose zu tun, vor allem Obdachlose mit nichtdeutscher Herkunft, die schon jahrelang hier sind und bei vielen Einrichtungen auch bekannt sind, die werden gegängelt und so weiter.

Und die Ämter wollen auch nicht gerne diese Tagessätze auszahlen, weil dann du in deren Statistik bist. In dem Moment, wo du beim Sozialamt, Landratsamt, Landkreis, Rathaus oder beim Jobcenter, den regulären Tagessatz bekommen hast, oder den Wochenendsatz, das sind immer 3 Tage, Freitag, Samstag, Sonntag, in dem Moment bist du bei denen in der Statistik drin. Und jeder mehr, der drin ist, erhöht die Negativbilanz. Deswegen will man die Vagabunden auch gar nicht einrechnen, nicht haben. Viele bekommen den Tagessatz auch nicht, dann sind sie nicht in ihren Listen drin, es gibt sie dann einfach nicht, es gibt dann dort keine Obdachlosen.

Maik: Naja, ok. Und wenn man dann immer weiterzieht, dann ist man in mehreren Listen drin und dann erhöht sich vielleicht auch die die Zahl der gemeldeten Obdachlosen, und das ist auch nicht gewollt.

Richard: Nein, du bekommst nur einmal am Tag einen Tagessatz, so bist du auch nur für diesen Tag registriert.  Wenn du dann morgen in einer anderen Stadt bist, läuft es wieder ganz von vorne an.

Maik: Verstehe. Denkst du, das ist gewollt, so politisch, dass man jetzt ein bisschen mehr nachvollziehen kann, wo die Leute sind. Das ist ja schon schwieriger geworden als zu den Zeiten, wo du unterwegs warst. Ist eine politische Meinung, kannst du jetzt auch nicht sagen, wie es ist, aber ich höre da jetzt ein bisschen was raus ist, dass es jetzt extra gemacht wurde, um es so ein bisschen zu verkomplizieren. Aber vielleicht täusche ich mich da auch.

Richard: Also Hartz IV ist ein bisschen neoliberaler Mainstream. Und insofern darf man sich nicht wundern, wenn die Sachbearbeiter*Innen auch diese neoliberalen Ansichten vertreten. Deswegen muss man mit diesen Leuten und den Gesetzen auch sehr vorsichtig umgehen. Hartz IV ist nun mal fordern und fördern. Man erzwingt von dir was. Und wenn du das nicht einhält oder erfüllst, bekommst du sofort eine Kürzung oder Sperre. Und das betrifft auch Obdachlose, überall.

Ich kann sagen, dass durch die HartzIV-Einführung die Gelder drastisch reduziert wurden. Es gibt zum Beispiel keine einmalige Beihilfen mehr. Es gibt zwar, wenn du zufällig eine Wohnung gefunden hast, vom Amt eine minimale Erstausstattung für Möbel und Hausrat, diese Erstausstattung bekommst du aber nur einmal und liegt dann in der Höhe von etwa 1000 Euro. Darin ist dann alles beinhaltet, das heißt nicht, dass du das Geld in bar bekommst, sondern es kann dir in bar gegeben werden, man kann dir aber auch Gutscheine geben. Oder man kann einen Sozialdienst beauftragen, in deinem Beisein die Sachen einzukaufen, aber das Geld hat der jeweilige Sozialdienst in der Hand.

Maik: Aber damit ist ja auch gesagt, dass du eigentlich dir eine Wohnung suchen sollst. Oder kann man sagen, ich möchte das Geld haben für ein paar Wanderstiefel oder so.

Richard: Nein, das geht nicht. Die einmaligen Beihilfen, die gab es früher und wenn es nur ein Zehner war oder ein Zwanziger war. Seit Hartz IV nichts mehr. Heute gibt es diese einmalige Einrichtungshilfe, nur wenn du eine Wohnung bezogen hast und polizeilich dort gemeldet bist. Das Problem ist, Obdachlose finden nun mal sehr schlecht eine Wohnung gegenüber Personen, die auch arm sind, aber einen festen Wohnsitz haben.

Stell dir folgendes vor, du wohnst in einem sozialen Brennpunkt, weil die Miete dort günstig ist. Ich nehme mal in Berlin den Bezirk Hellersdorf als Beispiel. Oder wir nehmen andere Stadtteile als Beispiel, wo du genau weißt, dass du relativ finanziell günstigen Wohnraum bekommst, wenn du dich auf die Beine stellst, selbst suchst oder, wenn du Beziehungen hast und auch nicht kontaktscheu bist.

Zum Beispiel Wedding, entlang der Osloer Straße. Oder gehen wir mal nach Neukölln, Tempelhofer Damm oder auch der Herrmannplatz und so weiter. Da hast du schon eher eine Möglichkeit bezahlbaren Wohnraum zu finden. Aber wer will schon unbedingt in einem Stadtbekannten sozialen Brennpunkt leben? Ich nicht unbedingt.

Maik: Mittlerweile ist es da auch dort schwierig geworden.

Richard: Genau. Aber summa summarum sind die Hürden hochgelegt. Wenn du als Obdachloser kommst und eine Wohnung haben möchtest, dann stehst du erstmal in der Liste der Bewerber an letzter Stelle. So zeigt man dir, was du wert bist.

Maik: Ja, das weiß ich wohl. Es ist fast unmöglich, selbst wenn du aus einem Obdachlosenheim kommst oder die Adresse drauf steht, nicht das Heim, aber schon die Straße. Die Vermieter wissen dann auch, mit wem sie es zu tun haben, das ist sehr schwierig, das stimmt. Nochmal zu dir, ich hab dein Buch gelesen, ist ja schon sehr berühmt mittlerweile geworden, auch mit Auszeichnung usw. Herzlichen Glückwunsch nochmal. Ja, ist schon eine Weile her, dass ich es gelesen habe. Ich habe es nicht mehr alles komplett im Kopf, aber im Groben natürlich. Du schreibst, wenn ich mich richtig erinnere, du bist rausgeflogen aus deinem Elternhaus.

Richard: Ja. Es war im April 1986. Ich hatte damals eine schwere Erkrankung gehabt. Ich war Kokainabhängig und auf das Jugend- und Sozialamt angewiesen. Das Sozialamt stellte die Leistungen ein und der Vermieter, die GBG, warf mich kurzerhand aus die Wohnung. Alles nur wegen drei ausstehende Monatsmieten plus drei Mal die Nebenkosten. Das war damals ein Gesamtbetrag von 1500 DM für eine 50 qm-Wohnung mit Balkon. Das Amt hat die Leistungen eingestellt, weil der Mietvertrag auf meine Mutter lief und sie im Dezember 1985 verstorben war. Daraufhin hat das Amt die Leistungen eingestellt, sprich ab 1. Januar 1986 nichts mehr bezahlt.

Dann kam im April 1986 die Räumung und es hat sich herausgestellt, dass allein die Musikinstrumente, die meinen Eltern damals gehörten, meine Mutter hatte zum Beispiel ein Klavier, mein Vater besaß ein Akkordeon und eine Trompete und ich besaß im Keller ein Schlagzeug. Alles funktionstüchtig. Alleine diese Musikinstrumente hatten damals einen Wiederverkaufswert von circa 8000 DM. Was ist aus dem ganzen Geld geworden? Mehr als die Summe dessen, was ich zu schulden hatte. Also hat sich doch damals jemand daran bereichert, oder?

Maik: Aber da hast du nichts mehr von gesehen oder gehört wahrscheinlich.

Richard: Nie wieder etwas davon gehört. Nicht einmal eine Entschuldigung. Jedenfalls fing so meine Obdachlosigkeit an. Und sie sollte dreißig Jahre andauern. Ohne festen Wohnsitz in Deutschland. Heute hier, morgen dort.

Maik: Was passiert denn dann, also ich war noch nie in der Situation, die kommen dann und sagen, sie müssen jetzt raus. Aber eigentlich kann es ja nicht gewollt sein, auch von Amts wegen nicht, dass du dann deinen Rucksack nimmst und auf der Straße stehst.

Richard: Die haben dann folgendes gemacht. Der Gerichtsvollzieher hat mir zwei Plastiktüten mit der letzten Habe gegeben. Dann bin ich am selben Abend noch in die Notübernachtung der Stadt Mannheim. Damals war das ein Zimmer mit 10 Doppelstockbetten. Da habe ich dann die erste Nacht verbracht und dort wurden mir auch noch die letzte Habe gestohlen. Weil ich von niemandem vorher eingewiesen worden bin.

Und so fing mein Leben als Ausgestossener am Rand der Gesellschaft an. Dann bin ich halt in Mannheim von einer Übernachtung in die andere gescheucht worden und das war halt rechtlich, weil die Zustände damals in Mannheim katastrophal waren, kein Vergleich zu heute und insofern bin ich dadurch noch tiefer gerutscht.

An vielen Ortschaften in Deutschland ist es heutzutage teilweise immer noch so. Es gibt ja kein Fangseil, dass dich aufhält. Bist du erstmal obdachlos, dann fällst du erstmal unten durch, weil damit die Stadt und die Kommune mit dir dann nichts mehr zu tun haben oder haben wollen. Als Obdachloser bist du nun mal ein Ausgeworfener dieser Gesellschaft. Ohne Schutz, ohne Rechte, ohne Würde und manchmal auch verlassen.

Was meinst du, wie viele obdachlos werden, nur weil die Stadt oder Kommune deine Notlage ignoriert. Und viele von denen, die obdachlos werden, sind zum Teil auch gar nicht selbst schuld daran. Stell dir mal vor, etwa zwei Drittel aller Menschen, die obdachlos werden, also die aus ihrer Wohnung rausfliegen, das sind Menschen, die entweder eine psychische Erkrankung haben und gar nichts dafür können, weil sie einfach nicht mehr in der Lage sind, sich selbst, vertreten zu können, amtsmäßig vertreten zu können. Da sind viele Menschen dabei, die Alkohol- oder Drogenkrank, oder spielsüchtig sind. Viele leiden an psychischen Erkrankungen, übrigens auch die häufigste Form, die man auf der Straße findet. Aber auch Schicksalsschläge wie Familientragödien, Scheidungen oder Todesfall einer geliebten Person. Haftentlassene oder entlassene aus Sanatorien, sowie Heimkehrer aus dem Ausland. Und dann kommt noch das Schamgefühl hinzu. Die sogenannte verlorene Ehre! Du willst es gar nicht offen sagen, dass du obdachlos bist. Du schämst dich einfach dafür.

Dann gibt es ja Scheidungen, wo der Rauswurf aus die Wohnung der letzte Schritt in Richtung Abgrund ist und die Frau zum Beispiel ins Frauenhaus muss, weil sie Angst vor ihrem gewalttätigen Mann hat. Im Frauenhaus stellt man dann fest, dass sie dort Fehl am Platz ist und eigentlich nicht bleiben kann oder darf. Das macht viele Frauen obdachlos und mit schlimmen Folgen versehen.

Und dann kommt noch die verdeckte Obdachlosigkeit. Sofahoppa und Couchsurfer, gerade bei den jüngeren Obdachlosen ist diese Praxis gängig. Dann kommt noch die Prostitution dazu, sich für sexuellen Dienste ein Dach über dem Leben zu sichern. Insofern ist die echte Zahl der Obdachlosen, die wir hier in Deutschland haben ungewiss. Hinzukommen noch die hohe Anzahl an den Zugereisten aus fernen Länder, die hier ihr Glück suchen und Aufgrund der Sprachbarriere komplett durch das Raster fallen. Viele werden dadurch erst richtig krank. Manche sogar totkrank.

Wir haben in Deutschland circa eine Million Menschen, die ohne einen eigenen Mietvertrag sind. Das heißt, sie haben keinen eigenen Wohnraum! Sie sind anderweitig versorgt, zum Beispiel bei Bekannten, bei Freunden, mal für ein paar Tage da, mal für ein paar Wochen dort. Viele jüngere Obdachlose haben sich leider in die Prostitution verabschiedet. Weil es für sie die scheinbar einzigste Form der Unterbringung ist, die sie noch glauben zu haben. Vor allem bei den unter 20 jährigen ist die Gefahr der Prostitution groß. Das Risiko sich oder andere dabei oder dadurch schwer zu erkranken missbilligend in Kauf nehmend.

Die Obdachlosigkeit beginnt ja heute schon mit 14 oder 15. Was meinst du, wie viele sogar schon mit 13 aus Kinderheim, Jugendeinrichtungen oder aus zerrütteten Familien abhauen, um dann spurlos zu verschwinden? Irgendwo im Nirgendwo auf der Suche eine neue Heimat zu finden. Dann hörst du wieder mal, ein Kind ist spurlos verschwunden. Warum verschwunden? Da muss man sich die Frage stellen, warum sieht man das Kind nicht? Was ist da passiert? War der Abgrund aus dem das Kind ausriss ein zerrüttetes Familienverhältnisse, oder floh es vielleicht vor sexuellem Missbrauch? Vielleicht hat das Kind einfach nur tiefe Angst und flüchtete, um nicht mehr gefunden werden zu können? Flucht vor den Peinigern führt oft in die Hände von neuen Peinigern.

Fakt ist, wir haben nun diese fast eine Million Menschen ohne eigenen Wohnraum. Da sind auch viele dabei, die aus der Flüchtlings-Szene kommen, ehemals Geflüchtete sind, die den Anforderungen nicht standhielten, oder deren traumatischen Fluchterfahrungen so schlimm waren, dass sie erst die Kraft verloren und dann den Halt. Aus Hoffnung wurde dann Verlorenheit. Die gehen dann in die Obdachlosigkeit rüber und verlieren sich hier.

Sehr viele kommen aus Osteuropa. Viele derer die bei uns sind, verlieren den Halt nur der Sprachbarriere wegen. Die Sprache ist die größte Hürde. Und dann sind auch viele Obdachlose untergebracht in Notunterkünfte, in betreute Wohnprojekte, in Wohnheime. Ich gebe nun mal Berlin als Beispiel. Die besten Träger in Berlin, muss man beim Namen nennen. Das ist zum einen die Berliner Stadtmission. Die haben viele betreute Wohnprojekte. Wunderbare Angebote hat die GeBeWo, die Gesellschaft für Betreutes Wohnen. Den einstigen Gründer dort, Lothar Fiedler, kannte ich als Betroffener sogar noch persönlich. Oder die Heilsarmee. Gute Namen, gute Adressen.

Maik: Du warst ja Jahrzehnte unterwegs.

Richard: Ja, 30 Jahre.

Maik: 30 Jahre ist ja unglaublich lange. Ja, aber wie war das? Also hattest du denn irgendwann das Gefühl, das ist jetzt mein Leben? Ich mache es jetzt weiter. Oder hast du wirklich 30 Jahre versucht, eine Wohnung zu kriegen?

Richard: Also ich will mal so sagen, als Berber oder Vagabunden bezeichnet man Leute, die schon mehrere Jahre auf der Straße obdachlos sind und von Ort zu Ort ziehen. Im Grunde ist man aber eigentlich zum Nomaden geworden und man lebt für sich selbst, pflegt kaum noch soziale Kontakte. Je länger man auf der Straße ist und bundesweit umherzieht und jetzt nicht nur an einer Stadt klebend ist oder an einer Region hängt oder auf ein Bundesland fixiert ist, dann ist man sprichwörtlich Vogelfrei.

Ich war ja bundesweit im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs und kenne 5000 Einrichtungen locker und auch die Sozialdienste. Du brauchst nur mal zur Levetzowstraße hingehen, da meinen Namen fragen, da gibt es auch eine Akte zu mir. Oder bei den Franziskanern in Pankow. Die Suppeküche dort kenne ich schon seit den neunziger Jahren, damals wurde noch draußen gegessen, da musste man sich draußen anstellen. Heute hat man einen schönen Innenraum.

Das ist mir alles noch gut bekannt. Aber irgendwann weißt du, je länger du auf der Straße lebst, umso ist es schwieriger davon wieder los zukommen. Auch heute noch, muss ich sagen, fällt es mir schwer, obwohl ich seit über einem Jahr nicht mehr obdachlos bin. Dank meines Bestsellerbuches.

Maik: Mit Motorradrockern hast du noch was geschrieben, oder?

Richard: Ja, einmal 2019. Das Buch heißt 'Plädoyer einer Randkultur'. Da habe ich vor zwei Jahren als Co-Autor daran mitgewirkt. Außerdem schon vor Jahren für den Chrismon-Verlag. Als Co-Autor für das Buch 'Arme habt ihr alle Zeit - Vom Leben obdachloser Menschen in einem wohlhabenden Land'.

Maik: Das kenne ich noch nicht.

Richard: Ja, da hab ich ein Kapitel von 10 Seiten verfasst und einen Auszug davon kannst du übrigens auch online lesen. Überschrift war damals 'Selbsthilfe aus dem Netz'.

Viel wurde ich gefragt, wie überlebt man auf der Straße? Beispiel als Tagelöhner oder mit Gelegenheitsarbeiten. Betteln oder Leergut sammeln geht auch. Wenn man genügend Geld hat, mietet man sich dann bei einer preiswerten Pension ein.

Ich war 30 Jahre unterwegs. Das ist was anderes, als wenn einer mal nur fünf oder zehn Jahre unterwegs war. Ich hab keinen Schulabschluss, keine Berufsausbildung. Ich bin eigentlich Autodidakt was Lesen und Schreiben betrifft und hab mir alles letztendlich selbst beigebracht. Ich war ja auch dazu gezwungen, weil ich großartig niemanden hatte, der mir positiv etwas vorleben konnte. Die Leute, die ich auf der Straße kennenlernte. Waren die einzigen, zu denen ich Vertrauen hatte. Das waren immer die älteren Berber, die 10 Jahre und noch mehr älter waren. Von denen hab ich dann noch was lernen können. Die Gleichaltrigen oder die Jüngeren, die haben mir Geschichten erzählt, da hat sich hinterher immer herausgestellt, jedes zweite Wort war gelogen. Auch heute ist es noch so. Sagt dir einer hat Abitur, frag, ob du das Zeugnis mal sehen kannst.

In all den Jahren, immer wieder die gleichen oder sich ähnelten Geschichten. Erzählt der eine, er hat Lehre gemacht und hat das und das gemacht. Und der nächste, eine Stadt weiter, der erzählt eine ähnliche Geschichte, dann weißt du Bescheid. Und das zieht sich wie so ein Faden durch die ganze Szene hindurch, dass du einfach Geschichten erzählt bekommst, wo keiner nachprüft, ob es stimmt. Mir hat ein Sozialarbeiter mal gesagt, wenn mir einer erzählt, dass er einen Schulabschluss hat oder eine Berufsausbildung hat, dann gehe ich mal davon aus, kann es auch vorzeigen, und wenn man jetzt keine Unterlagen mehr hat, kann er diese dort bei den Trägern einfach wieder anfordern. Insofern, wenn man das nicht macht, dann hat man auch nichts.

Maik: Also vielleicht eher jüngere Leute, mit dem ich jetzt gesprochen habe, die auch so ein nomadisches Leben führen, erzählen mir mit Begeisterung, wie sie dann bei McDonalds übernachten oder ähnliche Abenteuergeschichten. Es ist auch immer so etwas mit Selbstbestimmung dabei. Also ich lasse mir nichts sagen vom Staat und nichts von meinem Chef und ich will in Ruhe gelassen werden und so weiter.

Richard: Also ein Sturrkopf bin ich auch schon, das war ich eigentlich immer, wenn mir etwas nicht gefallen hat. Da gab es nur zwei Lösungen, entweder ich habe wirklich durchgehalten und mir den Weg erkämpft oder wenn ich gesehen habe, ich habe keine Chance, dann bin ich auch freiwillig gegangen. Was solls.

Maik: Und irgendwann bist du ja wieder an eine Wohnung gekommen nach 30 Jahren. Wie kam das? War das ein günstiger Zufall? Oder hast du dann nach 30 Jahren gesagt, jetzt reicht's mir?

Richard: Ich wohne jetzt in Köln, dank meines Ko-Autor Albrecht Kieser. Da bin ich ihm sehr dankbar. Ich bin zwar manchmal hier, manchmal dort, also ich habe ja eine ehrenamtliche Tätigkeit. Ich bin in Kliniken und Krankenhäusern, bei sozialen Diensten. Das heißt also, ich begleite dort Obdachlose in den Kliniken, die aufgenommen werden, stationär wohlgemerkt, die aber keinen Anhang mehr haben oder der Anhang will mit damit nichts mehr zu tun haben. Obdachlose die dort stationär liegen mit einer Diagnose, wie zum Beispiel Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Meistens kommen sie nicht mehr aus dem Krankenhaus raus. Und weil sie niemanden als Besuch haben, werde ich dann über die Sozialdienste kontaktiert oder über die einzelnen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, über deren Träger und dann wird gesagt, auf Station soundso liegt die Person und die oder der hat niemanden. Kannst du da hingehen, dich drum kümmern?

Ich habe die Bahncard 50, mache es auf eigene Kappe, gucke, dass ich ein Gästezimmer bekomme irgendwo für ein paar Tage. Und dann gehe ich in Absprache mit der Stationsschwester oder mit dem Stationsarzt, oder was auch immer, kaufe ich dann das ein, was die Person gerade dringend notwendig braucht. Zum Beispiel Hygiene-Artikel, Handtücher, Schlafanzug, Bademantel oder Badelatschen und all die Dinge, die man eben braucht, bringe es dann der Person hin, da sitze ich dann am Bett, rede mit der Person, ob was von Nöten ist. Wenn da jemand ist, wo sich die Familie drum kümmert, dann mach ich da nichts. Ich geh nur zu denen, die tatsächlich obdachlos sind und die wirklich niemand mehr haben. Nur wenn die Wege zu weit entfernt sind, dann schicke ich in Absprache mit der Station Pakete hin. 

Maik: Hut ab. Jetzt so im nachhinein, 30 Jahre auf der Straße, würdest du sagen, es war auch was positives dabei?

Richard: Na, sagen wir es mal so, es war schöner als das Leben, das ich jetzt führe. Das ist definitv so. Was nutzt dir ein schönes Buch oder was nützt dir ein gefüllter Geldbeutel, wenn alles andere fehlt? Das ist ganz klar gesagt, das Leben, was ich heute führe, ist kein Vergleich mehr mit damals. Heute führe ich ein zufriedenstellendes Leben. Ich muss mir weniger Sorgen und Ängste mehr machen. Ich bin da schon dankbar drüber. Ich habe zu essen. Ich bin Vegetarier. Ich kann mich so ernähren, wie ich es einst auf der Straße eigentlich nicht konnte. Wenn du in Unterkünfte gegangen bist, dann bist du erst einmal mit allem Möglichen versorgt worden, was an Essen da war.

Da gibt es gute Einrichtungen. In Deutschland gibt es einige Träger der Wohnungslosenhilfe, die meiner Ansicht nach gut aufgestellt sind, also Vorzeigemodelle sind. Da gibt es ganz gute Einrichtungen für Obdachlose, nur das wissen halt eben nur wenige. Da kommst du hin von der Straße und bist erst mal super gut versorgt. Dagegen gibt es Einrichtungen, die sind so brachiale Dreckshütten, wo du sagen musst, hey Leute, schließt diese Hütte, da kommst du mit einer ganzen Tüte rein und kommst nur mit der Unterhose wieder raus, der Rest ist alles gezogen.

Maik: Was fehlt dir denn heute? Also du meintest eben, eigentlich warst du früher glücklicher als heute. Jetzt kannst du alles essen, was du willst und so weiter. Aber was würdest du sagen, das fehlt dir jetzt, was du in den 30 Jahren hattest und jetzt nicht mehr?

Richard: Es ist die Freiheit die mir fehlt. Was ich jetzt habe, ich bin relativ abgesichert, kann vegetarisch leben. Ich kann die Tür aufmachen, kommen, gehen, wann ich will. Ich bin quasi sorglos. Demzufolge bin ich auch sehr zufrieden. Was mir fehlt, ist die Freiheit, unbeschwert das Leben zu leben. Diese räumliche Distanz. Heute hier, morgen dort. Diese Ungezwungenheit. Du bist nicht gezwungen, irgend etwas Bestimmtes jetzt tun zu müssen oder machen zu müssen, sondern du bist ungezwungen, eben frei. Du kannst jeden Tag neu entscheiden. Willst du jetzt nochmal einen Tag länger bleiben oder willst du einfach wieder weitermachen? Dieses grenzenlose Bewusstsein, das kann man am schönsten vergleichen, du stehst an der Nordsee oder an der Ostsee zum Beispiel, in Wilhelmshaven am Meer oder in Warnemünde am Meer, und du siehst am Strand raus in die Ferne. Übers Meer bis irgendwann hinten alles verschwindet und so stell dir dieses Leben, mein altes Leben vor.

Das Gefühl der Freiheit oder wirklich frei zu sein. Verantwortung nur für dich selbst und deines Gleichen tragen zu dürfen. Weil du eben alleine lebst. Du bist ein Einzelgänger. Und lebst wie ein Einsiedler. Du brauchst keine Familie um glücklich zu sein, erst recht keine falschen Freunde oder Beziehungen. Das ist das wahre Nomadenleben, dieses Einzelgänger-Leben. Ich bin zwar heute immer noch Einzelgänger und im Grunde lebe ich wie ein Nomade. Ich habe zwar jetzt eine Wohnung und wenn ich mal für paar Tage weg bin, habe ich ein billiges Pensionszimmer. Aber im Grunde bin ich lieber für mich alleine. Einsamkeit ist die Quelle meiner Resilienz. Weißt du, was für mich Einsamkeit bedeutet? Einsamkeit bedeutet für mich, inneren Frieden und innere Freiheit.

Maik: Der Blog „Ohne Wohnung was nun“ ist sehr sachlich, also du sagst den Leuten, wo sie was finden können und so weiter. Die Vagabundenbloggerin beispielsweise, die macht's anders, die zeigt sich, wie sie da so glücklich mit Rucksack unterwegs ist. Bilder hab ich von dir nicht gesehen, sondern es ist eher sowas, wie Verbraucherhinweise, was ja auch total sinnvoll ist. Ich sehe da unterschiedliche Herangehensweisen.

Richard: Wenn ich anderen helfe, muss ich mich nicht noch ins rechte Bild rücken und sagen hey guck mal hier, ich bin der Oberberber oder so. Ich will mich nicht ins rechte Bild rücken, wenn ich anderen helfen kann, das kann ich es auch, ohne Kiebitze. Und die Blöcke, die ich da geschaffen habe, sind ja nur dafür da, um einfach informationen preiszugeben und immer wieder mit dem Hinweis, bevor du hingehst, ruf vorher an, erkundige dich vorher. Sei nicht dumm. Auch eine gute Adresse kann sich mal ändern. Und deswegen habe ich diese Blöcke ja online gestellt, oder auch das Buch, ich bin nicht derjenige, der sich in den Vordergrund rücken will. Ich kenne andere, die sind froh, wenn sie im Rampenlicht sind. Die sind froh, wenn sie irgendetwas erreicht haben, das außergewöhnlich ist und damit ständig in der Öffentlichkeit stehen. Aber ich bin überhaupt nicht scharf drauf, in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich habe festgestellt, je mehr ich in die Öffentlichkeit komme, umso mehr ziehe ich mich zurück. Ich habe seit über einem Jahr alle Anfragen für TV abgelehnt, weil ich einfach null Bock mehr auf diesen Haifischbecken habe. Ab und zu gebe ich noch gerne ein Interview für Zeitungen oder mal für ein Radio. Aber TV habe ich schon seit über einem Jahren komplett weggestellt und nehme auch nichts mehr an, weil ich nicht der Mensch bin, der sich vermarkten lassen will. Ich helfe wo ich kann, aber dafür muss ich nicht ins Fernsehen. Ich brauch auch kein Bundesverdienstkreuz. Wenn ich helfen kann, dann tue ich das. Ohne dass ich stets noch ein Kamerateam dabei haben muss. Selbstlos zu helfen, das kommt von Herzen. Aber wenn andere dabei sind, die dich begleiten bei deiner Hilfe, das ist dann schon Vermarktung. Stell dir vor, du liegst todkrank stationär im Klinikum und dein Besuch bringt dir statt liebe Worte ein Kamerateam von RTL oder einen Journalisten von die BILD Zeitung für eine Exklusivstory mit. Willst du sowas? 

Maik: Bei dir liest sich das eher so, passt bloß auf! Wenn ihr dann auf der Straße seid, dann empfehle ich euch gute Einrichtungen, aber macht es lieber nicht!

Richard: Es ist eine dringende Mahnung sogar. Glaubt nicht alles, was man euch sagt. Auch in der Szene selbst wird viel gelogen. Jedes zweite Wort, was du auf der Straße erzählt bekommst, brauchst du nicht auf die Waage legen, denn die Waage bricht ab. Und wenn du wirklich was wissen willst, was Wahrheit ist, dann musst du mit den Leuten immer unter Vieraugengespräch mit ihnen reden. Und vertraue dich niemanden an, den du nicht kennst, dann bist du schnell am Boden. Mach dich schlau, weil es gute und schlechte Einrichtungen gibt. Auf die Straße gibt es das Sprichwort, weißt du etwas, was ich nicht weiß, weiß ich etwas, was du nicht weißt.

Mein Prinzip auf meinem Blog, veröffentliche nur, wo du selbst hingehst. Ich folge den beiden Prinzipien der Gefahrenabwehr und der Sesshaftmachung. Gefahrenabwehr heißt, ich kann keine Einrichtung empfehlen, wo die Leute hinkommen und abgezogen werden oder belogen, betrogen, bestohlen werden, oder sie vielleicht noch verprügelt werden. Seßhaftmachung ist, ich kann keine Einrichtung empfehlen, wo es heißt, du kannst hier bleiben, wohnen, länger bleiben und so. Wo du dann hinkommst und dann hast du eine Hütte voll mit Kakerlaken, mit Bettwanzen, die Sozialarbeiter, die kümmern sich nicht um dich, du redest da mit einer Wand. Letztendlich bist für dich alleine da. Wo die Decke auf den Kopf fällt und alles.

Das sind alles nicht meine Gedankengänge. Weißt du, was für mich sinnvoll ist, was für mich eine ideale Form ist von Rückkehr zur bürgerlichen Mitte? Das sind drei Punkte. Das sind Resozialisation, Rehabilitation und Re-Integration. Also Resozialisierung auf der einen, durch Einrichtungen, die es wirklich ernst meinen mit dir, die gute Angebote bieten, wie zum Beispiel gesund machen durch Rehabilitation, dass man erst mal dich gesund macht, bevor man an weitere Dinge rangeht. Viele auf der Straße sind mehrfach geschädigt, mehrfach erkrankt. Und dann kommen wir zu Re-Integration, das heißt, rückführen ins bürgerliche Leben. Wenn du dich wieder gesund gemacht hast, wenn du dich wieder stabilisiert hast. Wenn du wieder das Dach über dem Kopf als deinen Heimatort fühlst, dann kann man den nächsten Schritt machen. Dann kann man dich wieder in die Arbeitswelt eingliedern. Aber nicht irgendwas, sondern was kannst du? Wozu bist du bereit? Was möchtest oder kannst du tun? Wie können wir dir so helfen, dass du für alle ein Gewinn bist? Das ist das wichtige. Wie soll ich einem Menschen sagen, fordern und fördern, wenn der schon seit zwanzig Jahren nicht mehr in dem Beruf gearbeitet hat oder vielleicht noch niemals gearbeitet hat, etwas auf Befehl zu tun. Man muss den Menschen da nehmen, wo der Mensch sagt, das könnte ich mir vorstellen. Da habe ich Kraft und Motivation. Da gewinne ich wieder Freude am Leben.

Maik: Hat sich die Obdachlosen-Szene in den letzten Jahren aus deiner Sicht stark verändert?

Richard: Hat sich total verändert, heute ist es komplett anders, heute ist die Szene jünger geworden. Als ich auf die Straße kam, 1986 obdachlos wurde, da war ich damals mit meinen fast 22 Jahren, sowas wie ein Kind. Damals waren die Obdachlosen, die ich kennengelernt habe, alle im Schnitt 15 bis 20 Jahre älter. Wenn ich heute in die Szene abtauchte, was ich oft genug tue, dann ist die Szene jünger geworden. Es gibt viel mehr jüngere Obdachlose. Heute ist das Durchschnittsalter bei den Obdachlosen, würde ich sagen, so bei 30. Als ich auf die Straße gekommen bin, war das Durchschnittsalter bei 50. Also Generationswechsel nach unten. Und die Szene ist rauer geworden. Es geht derber zur Sache. Die Fäuste fliegen schneller als sie hochkommen und so weiter. Dann die Szene, es gibt die klassische Szenenbildung. Alkies für Alkies, Junkies für Junkies, Psychos für Psychos. Das ist die klassische Einteilung. Alkies nicht mit Junkies, außer du bist politoxikoman, dann bist du überall willkommen. Und du hast die Glücksspielsüchtigen, du hast die Drogensüchtigen, Alkoholsüchtigen, du hast die psychisch Kranken. Du hast viele mit Psychosen, die sind unbehandelt, da weißt du gar nicht richtig, geht alles gut aus? Man muss heute beinahe schon gewaltbereit sein, um sich durchsetzen zu können.

Maik: Hast du eine Idee, wie das kommen konnte, dass es so hart geworden ist und dass es früher anders war?

Richard: Es sind mehr Leute auf der Straße. Wir haben viel mehr Obdachlose. Und diese Sprachbarriere. Wir haben so viele unterschiedliche Sprachen mittlerweile, so viele unterschiedliche Gruppen, auch von Herkunft her. Da gibt auch sehr viele Deutsche, die waren im Ausland gewesen. Mallorca, Teneriffa oder sonst wo, sind gescheitert, kommen als gescheiterte Existenz hierher zurück und sind einfach nur noch total gefrustet. Vielleicht mit aufgestauten Hass und das entlädt sich dann ab und zu mal. Es hängt auch mit Hartz IV zusammen. Hartz IV hat den ganzen Mainstream auf der Straße abgekühlt, runter geholt. Heute auf der Straße zu leben, da muss man wirklich schon Krokodilsleder haben. Oder man muss wirklich gewaltbereit sein. Oder man muss Abwehrmechanismen, Pfefferspray, bei sich haben, Schlagstock oder ein Messer. Alles verbotene Dinge, aber nur so überlebst du auf der Straße.

Jedesmal wenn du spürst, jetzt geht es gegen dich, dann pack deine Sachen und verschwinde von dort. So bleibst du unbeschadet. Besser freiwillig wieder weg, als mit Brüchen im Krankenhaus liegen etc.

Es gibt drei Gruppen auf der Straße, die haben es sehr schwer, weil sie gegängelt, gehänselt oder ausgegrenzt werden. Denn auch unter den Ausgegrenzten gibt es Ausgegrenzung. Menschen mit körperlichen, oder mit geistigen Behinderungen, oder mit seelischen Erkrankungen, die sie zu Außenseitern machen.

Ein schweres Standbein auf der Straße, haben zum Beispiel Homosexuelle. Die werden auf der Straße regelrecht gemieden, man will sie einfach nicht haben. Entsprechend werden sie auch behandelt. Sexuelle Belästigungen sind nicht selten. Meist kommt der Hass gegenüber Homosexuellen selbst von Betroffenen, die damit zum Beispiel nur ihre eigene Bisexualität oder Homosexualität verheimlichen und als echter Mann dastehen wollen. Oder Menschen, die sich halt nicht richtig durchsetzen können, weil sie labil sind. Es gibt also gewisse Gruppen, die auf der Straße nicht willkommen sind. Und das kriegen dann auch einige zu spüren. Ich kann nur sagen, wenn du zu einer dieser Gruppen zählst, dann verbünde dich mit einem Gleichgesinnten. Nur so kommst du praktisch Schadlos über die Runden. Die meisten Gefahren lauern auf der Straße aber für Frauen und minderjährige Mädchen. Gerade sexuelle Übergriffe und Prostitution sind die großen Gefahren für das obdachlose weibliche Geschlecth und sind ausnahmslos überall präsent. Gerade hier mangelt es in Deutschland an adäquate Hilfen für Frauen und minderjährige Mädchen. Zum Schutz und Sicherheit betroffender Frauen, sollte es im Rahmen der Wohnungslosenhilfe vermehrt Einrichtungen geben, die nur für diese von Gewalt und Ausnutzung betroffenen Damen eine voll- oder teilstationäre Soforthilfe gewährleistet. Wie bei fast allen männlichen Obdachlosen leiden auch Frauen und Mädchen an den Folgen der Obdachlosigkeit. Sucht- und psychische Erkrankungen sind auch hier die Folgen.

Maik: Denkst du, dass die Leute heute eventuell auch leichtfertiger auf die Straße gehen als früher?

Richard: Also früher war das auf jeden Fall nur gezwungenermaßen, obdachlos zu sein. Heute ist es bei den jüngeren Obdachlosen, also bei denen, die deutlich unter 30 sind häufiger. Da findest du auch eher schon Cliquenbildungen, wie die Pseudopunkerszene! Da wird auch nicht mehr Punk im klassischen Sinne gehört, sondern eher irgendwelchen Techno oder sowas.

Es sind neue Formen von Gruppen, die sich gegenseitig schützen, weil sie alleine schwach und hilflos sind. Das sind junge Erwachsene, die schnorren gemeinsam und gehen auch gemeinsam auf Platte, gehen in besetzte Häuser, Abbruchhäuser oder übernachten im Freien oder bei irgendwelche Kumpels.

Die sind obdachlos, ja, aber eben keine klassischen Obdachlosen. Diese Gruppenbildung dient ja auch, weil sie beispielsweise Angst haben, wenn sie allein sind, dass sie verdroschen oder missbraucht werden. Und dann sucht man sich eine Clique, weil man genau weiß, wenn ich mal nichts hab, weil ich heute nichts ging, dann hat eben der andere was zu essen, zu trinken oder was zu kiffen. Und das ist nix anderes, wie gegenseitiges Geben und Nehmen. Aber letztendlich ist es nichts halbes und nichts ganzes. Am besten ist es wieder den Weg zu zurück finden, in ein Dach über dem Leben.

Fazit ist, wer einmal obdachlos ist, also keinen eigenen Mietvertrag, kein Dach über dem Kopf und keine eigenen vier Wände hat, läuft Gefahr, immer wieder obdachlose zu werden oder auf Dauer auch obdachlos zu sein. Die Langzeitfolgen sind neben der früheren Sterblichkeitsanfälligkeit, auch der Rückzug in das Nomadenleben. Ein Mittel zur Überwindung von Armut und Obdachlosigkeit wäre daher gesetzlich dringend geboten und könnte schon mit einem fest verdindlichen Zusatz in die Landesverfassungen der sechszehn deutschen Bundesländer behoben werden. Das Recht auf Arbeit und Wohnraum muss für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet sein.

Maik: Okay, lieber Richard, vielen Dank. Gibt es noch irgendwas von dir, was du jetzt noch loswerden möchtest?

Richard: Nein, nur passt auf Euch auf.

Foto: Richard Brox

(Das Gespräch wurde aufgezeichnet und für diesen Blog entsprechend gekürzt und überarbeitet)

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